Krankenkassenwechsel: Warum die meisten Versicherten freiwillig auf Geld verzichten
Ein verhaltensökonomischer Blick auf das Thema Krankenkassenwechsel
Krankenkasse wechseln – ja oder nein?
Wie jedes Jahr zu dieser Zeit versenden die Krankenversicherer jede Menge Informationen an ihre Kundinnen und Kunden, um diese auf die Prämienhöhe im kommenden Jahr sowie Fristen zur Kündigung und Änderung der Versicherungspolice hinzuweisen. Vergleichsportale wie Comparis werben mit einem Gratis-Prämienvergleich. Und am Ende stellt sich für jeden Einzelnen die Frage: Krankenkasse wechseln – ja oder nein?
In der Schweiz besteht die Möglichkeit, die (obligatorische) Grundversicherung frei zu wählen und jeweils zum Jahresende zu wechseln. Dank Digitalisierung besteht für Kunden im Versicherungsmarkt zunehmend Preistransparenz. Der Wechsel einer Versicherung ist dadurch erheblich einfacher geworden. Heisst das automatisch, dass Kunden vom Krankenkassenwechsel Gebrauch machen?
Aus ökonomischer Perspektive verursacht der Wechsel oder die Anpassung einer Versicherung Kosten (sogenannte Transaktionskosten), weil ein gewisser Aufwand – etwa in Form von Zeit – verursacht wird. Insgesamt muss der finanzielle Vorteil aus einem Wechsel also die Transaktionskosten übersteigen, damit der Wechsel "ökonomisch" Sinn ergibt. Zusätzliche Kosten können entstehen, wenn durch das Kündigen der Grundversicherung auch Zusatzversicherungen betroffen sind (Stichwort Bundling). Doch selbst wenn der Wechsel netto zu einem Plus führt, scheint der Wechsel keineswegs garantiert. So nimmt nur ein Bruchteil der Versicherten die Möglichkeit des Wechsels wahr – gemäss Comparis waren es im Jahr 2009 nur etwa 12 Prozent. Verschiedene Verhaltensmuster können dies erklären.
Kleine grosse Hürden
- Zum einen haben Menschen eine Tendenz, einen bestehenden Zustand nicht zu verändern ("Status quo Bias"), was sich in einer gewissen Trägheit von Entscheidungen manifestiert. Ein Beispiel aus einem anderen Versicherungsbereich ist die Verbreitung von Elementarschadenversicherungen in Deutschland: Im Bundesland Baden-Württemberg war die Elementarschadenversicherung bis 1994 obligatorisch. Heute haben dort noch immer 75 Prozent der Haushalte eine solche Versicherung, während es in anderen Bundesländern teilweise lediglich 10 Prozent sind (Deutscher Bundestag, 2009).
- Ein weiteres Verhaltensmuster, das dazu führen kann, dass die Grundversicherung nicht angepasst oder gekündigt wird, ist der sogenannte "Present Bias" und damit verbunden Prokrastinationsverhalten. Unter Present Bias ist zu verstehen, dass Menschen oftmals eine Vorliebe für die Gegenwart im Vergleich zur Zukunft haben, d. h. es fällt ihnen schwer, einer Handlung nachzugehen, die heute Aufwand verursacht, aber erst in Zukunft einen Vorteil generiert. Menschen haben eine Tendenz, solche Tätigkeiten vor sich herzuschieben – ein Verhalten, das als Prokrastination ("Aufschieberitis") bezeichnet wird. Im Versicherungskontext bedeutet dies, dass Leute den mit dem Versicherungswechsel verbundenen Aufwand scheuen und den Wechsel lieber auf nächstes Jahr verschieben.
- Zudem kann eine Rolle spielen, dass Menschen im Gegensatz zur hohen und wachsenden Fülle an Informationen nur beschränkte kognitive Ressourcen haben. Eine Folge davon ist, dass nicht jede Entscheidung auf Basis einer akribischen Kosten-Nutzen-Abwägung unter Berücksichtigung aller vorhandenen Informationen getroffen wird. D. h. selbst wenn zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten bestehen, bedeutet das nicht, dass auch alle Informationen verarbeitet werden und in die Entscheidung einfliessen. Zudem zeigt die Forschung, dass kognitive Überlastung Menschen zu Passivität bewegt, d. h. anstatt aktiv eine Entscheidung zu treffen, bleiben sie passiv und verharren im Status quo. Eine empirische Studie zum Schweizer Krankenversicherungsmarkt zeigt in diesem Zusammenhang, dass Kunden ihren Anbieter seltener wechseln, wenn mehr verschiedene Angebote bestehen. Dies kann Preisunterschiede für relativ homogene Produkte erklären (Frank & Lamiraud, 2009).
- Ausserdem kann einen Einfluss haben, dass Menschen Auswahlmöglichkeiten in einem Kontext bewerten und häufig mittlere Optionen wählen ("Extremeness Aversion"). Dies manifestiert sich etwa darin, dass in Restaurants häufig der zweitteuerste (statt der teuerste) Wein bestellt wird. Leute könnten ihre Krankenversicherung folglich nicht wechseln, weil sie das Extrem auf der günstigen Seite vermeiden wollen. Damit verbunden könnte auch sein, dass der niedrige Preis als Signal für eine schlechte Qualität interpretiert wird, auch wenn jede Grundversicherung gesetzlich vorgeschrieben den gleichen Leistungsumfang beinhaltet.
- Schliesslich könnte ein Wechsel der Krankenkasse dadurch eingeschränkt werden, dass Menschen sich "positiv reziprok" verhalten, d. h. ein als positiv wahrgenommenes Verhalten mit einer positiven Reaktion belohnen. Sind Versicherungsnehmer mit dem Service ihres Krankenversicherers also zufrieden, könnten sie durch einen Nicht-Wechsel ihre Zufriedenheit ausdrücken.
Stichtag 30. November
Selbst wenn der Krankenkassenwechsel aus finanzieller Sicht naheliegt, so entscheidet sich in der Praxis nur eine Minderheit dafür. Die gute Nachricht: Den oben genannten Verhaltensmustern kann mit verhaltensökonomischen Massnahmen begegnet werden, etwa durch einen möglichst einfachen und benutzerfreundlichen Wechselprozess oder zielgerichtete Erinnerungen. Und der Stichtag am 30. November ist noch nicht vorbei.