Im Fokus

In einer Reihe von Blogbeiträgen beleuchten unsere Mitarbeiter ökonomische Aspekte aktueller Themen und zeigen auf, wie ökonomische Ansätze bei der Einordnung und Bewältigung der anstehenden Herausforderungen helfen können.

Bislang veröffentlicht

05.11.2020: Die Nutzung der SwissCovid App mit #Gamification fördern

16.10.2020: Die Bedeutung von Framing für die Einhaltung der #Quarantäne

14.09.2020: Praktikalöhne aus ökonomischer Perspektive

06.07.2020: Zur Wirksamkeit von Corona-Massnahmen

23.06.2020: Die Rolle von Vertrauen und Reziprozität für #HomeOffice

22.06.2020: Sharing Economy: Verhalten von Airbnb

20.05.2020: Kartellrecht und Corona-Krise

06.05.2020: Kein Giesskannenprinzip auf Kantonsebene

30.04.2020: Knappe Ressourcen und der Wert eines Menschenlebens #MoralDilemma

23.04.2020: Referenzpunkte und Wahrnehmung der Lockerungen #ExitStrategy

06.04.2020: Der Preismechanismus und seine Grenzen

01.04.2020: Nudges: Kleine Massnahmen mit grosser Wirkung #WashYourHands

26.03.2020: COVID-19 Neuansteckungen: Wirkungsvolle Massnahmen

24.03.2020: Kein Grund für Hamsterkäufe #VolleRegale

20.03.2020: Bemessung von Covid-19 Schäden

19.03.2020: Kategorisierung internationaler Corona-Policies:

18.03.2020: #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut

Die Nutzung der SwissCovid App mit #Gamification fördern

Gamification_SwisCovid App
04.11.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unserem Blog Im Fokus haben wir uns bereits mit verschiedenen Themen zur Coronakrise und Verhaltensökonomik beschäftigt. In diesem Beitrag geht es um die SwissCovid App und wie deren Nutzung mit #Gamification gefördert werden könnte.

SwissCovid App als Unterstützung beim Contact Tracing

Trotz rasant steigender Fallzahlen beinhaltet die derzeitige Strategie des Bundesrates zur Eindämmung des Coronavirus nach wie vor das Contact Tracing, bei dem enge Kontakte von mit dem Coronavirus infizierten Personen ausfindig gemacht werden, um Infektionsketten zu stoppen. Um die Contact-Tracing-Arbeit der Kantone zu unterstützen, wurde im Juni die SwissCovid App lanciert. Laut dem Bund gibt es in der Schweiz rund 6,4 Mio. Handys, die mit der App kompatibel sind. Derzeit gibt es aber nur rund 1,8 Mio. aktive Apps, in den letzten Tagen ist die Anzahl Nutzer sogar leicht zurückgegangen. Eine flächendeckende Verbreitung der App ist folglich ausgeblieben, was ihre Wirksamkeit und damit auch die Contact-Tracing-Arbeit der Kantone insgesamt einschränkt. Gerade jetzt, wo die Kantone bei der Zurückverfolgung von Infektionsketten zunehmend an ihre Grenzen stossen, könnte eine Ausweitung der App-Nutzung einen Beitrag leisten.

Ähnliche Situation in anderen Ländern

Auch in anderen Ländern wurden Apps zur Nachverfolgung von Infektionsketten lanciert. Die Bilanz fällt ähnlich aus: In Deutschland wurde die Corona-Warn-App etwa 21,1 Mio. mal heruntergeladen (bei rund 83 Mio. Einwohnern), die Stopp-Corona-App aus Österreich etwa 1,1 Mio. mal (bei rund 8,9 Mio. Einwohnern), und immuni aus Italien etwa 9,5 Mio. mal (bei rund 60,4 Mio. Einwohnern). Hinzu kommt, dass die Anzahl aktiver Nutzer kleiner ausfällt als die Anzahl Downloads. Die Gründe für die Nicht-Nutzung der App können vielfältiger Natur sein. So könnten Leute etwa an der Wirksamkeit zweifeln, Datenschutzbedenken haben, sich einer möglichen Quarantäne entziehen wollen oder sich generell verweigern.

Kann Gamification helfen?

Gamification bezeichnet die Nutzung von Spielelementen in einem Nicht-Spiel-Kontext, um ein gewünschtes Verhalten herbeizuführen (Deterding 2012). Dafür können etwa Punkte, Ranglisten oder Auszeichnungen eingesetzt werden, die eine bestimmte Handlung oder ein erzieltes Ergebnis honorieren. Dabei wird ausgenutzt, dass unser Verhalten auch vom Verhalten anderer, von Feedback oder Referenzpunkten beeinflusst wird. Studien zeigen, dass mit Gamification positive Effekte erzielt werden können (Hamari et al. 2014). So kann etwa das Lernverhalten auf Online-Plattformen, Stromsparen oder der Konsum gesunder Lebensmittel durch spielerische Elemente gefördert werden (Denny 2013, Allcott 2011, Jones et al. 2014).

Vorbild Bike To Work

Ein aktuelles Beispiel für den Einsatz von Gamification ist Bike To Work – eine schweizweite Aktion zur Gesundheitsförderung in Unternehmen, bei der Mitarbeitende innerhalb eines definierten Zeitraums an möglichst vielen Tagen den Arbeitsweg mit dem Velo zurücklegen sollen. In der dazugehörigen App werden gezielt Gamification-Elemente eingesetzt: So werden Einzelpersonen und Teams in Ranglisten miteinander verglichen, Auszeichnungen für erreichte Ziele verliehen («Maillot-Jaune» oder «Kilometer Rowdy») sowie Statistiken zu gefahrenen Kilometern und eingespartem CO2 geführt. Wer selbst an der diesjährigen Bike To Work-Challenge teilgenommen hat, hat es womöglich ebenso empfunden: Die App macht Spass.

Und die SwissCovid App?

Sie könnte auch mehr Spass machen, indem sie um spielerische Elemente erweitert wird. Nutzer könnten Bonuspunkte erhalten (z.B. Download der App: einmalig 10 Punkte, App ist aktiv: täglich 1 Punkt). Ausserdem könnte man Nutzern verschiedene Auszeichnungen verleihen (z.B. Homeoffice-Champion: für regelmässiges Arbeiten von zu Hause, Flatten-the-Curve-Hero: für Teilen der App mit Anderen). Oder es könnten Challenges formuliert werden, deren Erreichen mit dem Aufstieg in eine höhere Liga belohnt werden (z.B. während einer Woche Freunde nur draussen treffen: Aufstieg von Beginner zu Advanced, maximal zweimal pro Woche einkaufen gehen: Aufstieg zu Expert). Der Kreativität sollten an dieser Stelle keine Grenzen gesetzt sein – selbstverständlich ohne den Datenschutz dabei ausser Acht zu lassen. So wäre es insgesamt wünschenswert, dass wir an die Existenz der SwissCovid App nicht nur dann erinnert werden, wenn das Virus-Symbol aufpoppt, weil die App aktualisiert wurde oder das Bluetooth deaktiviert ist, sondern etwa weil wir unseren aktuellen Punktestand überprüfen wollen.

 

Quellen:

 

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Die Bedeutung von Framing für die Einhaltung der #Quarantäne

16.10.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unseren bisherigen Beiträgen zu Verhaltensökonomik und Coronakrise haben wir uns mit folgenden Themen beschäftigt: #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut, der Psychologie von Hamsterkäufen, der grossen Wirkung von kleinen Massnahmen, der Rolle von Referenzpunkten für die Wahrnehmung der Lockerungsmassnahmen, dem #MoralDilemma zwischen knappen Ressourcen und dem unantastbaren Wert eines Menschenlebens sowie #HomeOffice und welche Rolle Vertrauen und Reziprozität dabei spielen. In diesem Beitrag geht es um die Bedeutung von Framing für die Einhaltung der #Quarantäne.

Quarantäne als zentraler Bestandteil der derzeitigen Corona-Strategie

Derzeit basiert die Strategie des Bundes zur Eindämmung des Coronavirus einerseits auf Hygiene- und Verhaltensregeln (wie Händewaschen und Abstand halten) und andererseits auf dem sogenannten Contact Tracing, bei dem enge Kontakte von mit dem Coronavirus infizierten Personen ausfindig gemacht werden, um Infektionsketten zu stoppen. Eng verbunden mit dem Contact Tracing ist die Massnahme der Quarantäne. Während sich erkrankte Personen in Isolation begeben, sind enge Kontaktpersonen einer infizierten Person angehalten, in Quarantäne zu gehen. Auch für Reisende, die aus einem Risikogebiet zurückkehren, gilt eine Quarantänepflicht. In beiden Fällen beträgt die Dauer der Quarantäne 10 Tage und ist auch dann einzuhalten, wenn keine Symptome auftreten oder ein negatives Testresultat vorliegt. In einem dreiseitigen Leitfaden des BAG zu Anweisungen zur Quarantäne wird detailliert beschrieben, was ein Quarantäne-Pflichtiger unbedingt zu tun oder zu unterlassen hat. Laut aktuellen Angaben des BAG sollten sich derzeit (Stand 16.10.) 12 964 Kontaktpersonen von Infizierten und 12 232 Reiserückkehrer in Quarantäne befinden.

Einhaltung unklar

Soweit die Zahlen. Wie viele der Personen, die sich derzeit in Quarantäne befinden sollten, die Quarantäne tatsächlich einhalten, ist eine andere Frage. Auch wenn es sich explizit um eine Pflicht (und nicht ein Gebot) handelt, deren Nicht-Einhaltung als Übertretung behandelt und mit einer Busse von bis zu CHF 10'000 bestraft werden kann, sind die Möglichkeiten, die Einhaltung der Quarantäne zu kontrollieren, begrenzt. Ohne die abschreckenden Bilder, wie wir sie vom Beginn der Coronakrise kennen (etwa von überfüllten Leichenhäusern), sind die Anreize, sich an die Quarantäne zu halten, komplexer und eng verbunden mit der Öffentliches-Gut Problematik. Während das Kollektiv, also die gesamte Gesellschaft, davon profitieren würde, wenn sich jeder an die Quarantänemassnahme hielte, so hat der Einzelne nicht zwingend einen Anreiz, dies zu tun. Stattdessen geht die Quarantäne mit vielen Verboten und persönlichen Einschränkungen einher, die man lieber vermeiden würde. Zudem könnte die vorgeschriebene Dauer der Massnahme von 10 Tagen dazu beitragen, dass ein Ermüdungseffekt einsetzt und die Quarantäne vorzeitig beendet wird.

Ist das Glas halb voll oder halb leer? Eine Frage von Framing

Verhaltensökonomische Studien haben gezeigt, dass unsere Entscheidungen massgeblich davon beeinflusst werden, wie ein Entscheidungsproblem dargestellt wird. In einem bekannten Experiment von Tversky und Kahnemann (1981) wurden Versuchsteilnehmer mit folgendem Szenario konfrontiert: Stellen Sie sich vor, die USA bereiten sich für den Ausbruch einer ungewöhnlichen Krankheit vor, die 600 Tote zur Folge haben könnte. Zwei verschiedene Programme wurden vorgeschlagen, um der Krankheit zu begegnen. Welches der beiden folgenden Programme würden Sie wählen?

  • Wenn Programm A eingeführt wird, werden 200 Leute gerettet.
  • Wenn Programm B eingeführt wird, besteht eine 1/3 Wahrscheinlichkeit, dass 600 Leute gerettet werden und eine 2/3 Wahrscheinlichkeit, dass niemand gerettet wird.

Bei diesem Entscheidungsproblem wählten 72% der Versuchsteilnehmer Programm A und 28% Programm B. Dies zeigt, dass die Mehrheit risikoavers ist und eine Präferenz für die sichere Option hat. Einer anderen Gruppe wurde das gleiche Szenario, allerdings mit einer abgewandelten Darstellung der beiden Programme, präsentiert:

  • Wenn Programm C eingeführt wird, werden 400 Leute sterben.
  • Wenn Programm D eingeführt wird, besteht eine 1/3 Wahrscheinlichkeit, dass niemand stirbt und eine 2/3 Wahrscheinlichkeit, dass 600 Leute sterben.

Bei dieser Darstellung der Programme wählten nur 22% der Leute die sichere Option (C) und 78% die riskante Option (D). Das Experiment zeigt, dass sich Menschen bei Gewinn-Entscheidungen risikoavers und bei Verlust-Entscheidungen risikofreudig verhalten. Tatsächlich sind beide Entscheidungsprobleme aber identisch. Der beobachtete Unterschied wird mit dem sogenannten Framing Effekt erklärt.

Weitere Studien zeigen diesen Framing Effekt auch für Öffentliches-Gut Experimente. So handeln etwa Versuchsteilnehmer häufiger im Sinne des Kollektivs, wenn eine Entscheidung als Beitrag zu einem öffentlichen Gut (wovon das Kollektiv profitiert), anstatt als Kauf eines privaten Gutes (das dem Kollektiv schadet), dargestellt wird (Andreoni 1995).

Erlauben statt verbieten

Übertragen auf die derzeitige Situation lautet die zentrale Erkenntnis also: Die gleiche Massnahme kann so oder so dargestellt werden, und damit unterschiedliches Verhalten induzieren. Der Framing Effekt könnte zur Förderung der Einhaltung und Akzeptanz der Coronamassnahmen genutzt werden. So mag es uns schwerer fallen, die Quarantäne korrekt zu befolgen, wenn wir nur im Kopf haben, was alles verboten ist. Stattdessen könnten ausgewählte Aktivitäten hervorgestrichen werden, denen wir explizit nachgehen dürfen. Wäre es nicht zum Beispiel denkbar, den Quarantäne-Pflichtigen einmal am Tag zu erlauben, draussen spazieren zu gehen, wenn der Kontakt zu Anderen und somit eine Ansteckung sicher vermieden werden kann?

Neue Möglichkeiten in Betracht ziehen

Vor dem Hintergrund des erneuten Aufflammens der Infektionszahlen rückt die Frage wieder näher, ob weitere Massnahmen nötig sind. Das oberste Ziel besteht darin, einen zweiten Lockdown und damit verbundene Folgeschäden zu vermeiden. Auf dieser Basis sollte überlegt werden, wie die derzeit geltenden Massnahmen dargestellt und womöglich angepasst werden können, um die Akzeptanz und Solidarität in der Bevölkerung hoch zu halten. Der Framing Effekt könnte dabei helfen.

 

Quellen:

Andreoni, J. (1995). Warm-glow versus cold-prickle: the effects of positive and negative framing on cooperation in experiments. The Quarterly Journal of Economics, 110(1), 1-21.

Sonnemans, J., Schram, A., & Offerman, T. (1998). Public good provision and public bad prevention: The effect of framing. Journal of Economic Behavior & Organization, 34(1), 143-161.

Tversky, A., & Kahneman, D. (1981). The Framing of Decisions and the Psychology of Choice. Science, 211(4481), 453-458.

 

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Praktikalöhne aus ökonomischer Perspektive

14.09.2020, von Felix Wüthrich

Viele junge Arbeitnehmer, insbesondere Studienabgänger, absolvieren Praktika als Teil ihrer Ausbildung oder als Einstieg ins Berufsleben. Dass der Lohn häufig tief ausfällt, ist weithin bekannt und wird regelmässig diskutiert. Die unterschiedliche Höhe von Praktikantenlöhnen zwischen, aber auch innerhalb von Branchen, sind gross. Wie lassen sich Praktikantenlöhne ökonomisch erklären und was ist eigentlich ein fairer Lohn für Praktikanten?

Definition und gesetzlicher Hintergrund

Um Praktikantenlöhne zu analysieren, muss bekannt sein, wie ein Praktikum definiert ist. Die Bedeutung der „praktischen“ Erfahrungen spiegelt sich im Begriff wider. Eine klare gesetzliche Definition gibt es allerdings nicht. In einem Bericht des Bundesamts für Statistik werden Praktika wie folgt definiert: „Als Praktikum wird eine Tätigkeit bezeichnet, die […] praktische Erfahrungen im künftigen Beruf vermitteln soll […]. Das Praktikum ist zeitlich begrenzt und soll nicht länger als 6 Monate dauern. Die Praktikanten haben laut Rechtssprechung grundsätzlich einen Anspruch auf eine angemessene Entlohnung“.

In der Realität ist die Bandbreite an Tätigkeiten, die als Praktikum bezeichnet werden gross: Praktika zum Schnuppern über wenige Tage, Praktika als Module von Studiengängen, Praktika ausserhalb formeller Ausbildungsprogramme, etc. Generell hält Christian Bruchez, Genfer Anwalt für Arbeitsrecht, jedoch fest, dass Praktikanten entlohnt werden sollten, sobald der Arbeitgeber von der Tätigkeit profitiert. Gesetzliche Vorgaben zur angemessenen Entlohnung gibt es jedoch keine.

Marktmacht der Arbeitgeber insbesondere bei Pflichtpraktika

Eine Erklärung für relativ tiefe Löhne in manchen Branchen für Praktikanten ist Marktmacht. In einem Markt, in dem viele Praktikanten, ein Praktikum bei einem der wenigen grossen z.B. Architekturbüros in der Schweiz absolvieren wollen, haben Arbeitgeber Marktmacht. Das grosse Angebot an Arbeitskräften kommt den Arbeitgebern entgegen und verbessert deren Verhandlungsposition. Werden zudem Pflichtpraktika für Studiengänge oder für weiterführende Ausbildungsstufen vorausgesetzt, haben (zu) tiefe Praktikalöhne auch keine Verknappung des Angebots zur Folge, d.h. im Gleichgewicht kann ein zu tiefer Lohn resultieren. Dies kann erklären, warum Praktika vor allem in Branchen, in denen Praktika als formeller oder informeller Teil einer Ausbildung betrachtet werden, relativ tief entlohnt werden.

Eine Investition in die eigene Ausbildung

In Branchen, in denen das Absolvieren von Praktika eine Voraussetzung für beruflichen Ein- und/oder Aufstieg sind, können Praktika auch als Investition in die eigene Ausbildung betrachtet werden. Die Rendite von Investitionen in Bildung wird als Bildungsrendite bezeichnet. Es gibt bereits Studien, die Bildungsrenditen empirisch untersucht haben. Praktika, die nicht formeller Teil eines Studiums oder einer Ausbildung sind, wurden dabei jedoch nicht spezifisch untersucht. Wenn Praktika nach Abschluss einer Ausbildung oder nach Abschluss eines Studiums als informeller Bestandteil einer Ausbildung betrachtet werden, sollten auch solche Praktika eine Bildungsrendite abwerfen und aus dieser Perspektive diskutiert werden. In diesem Sinne kann ein Praktikum mit einer relativ tiefen Entlohnung als Investition in die eigene Ausbildung betrachtet werden, deren Erträge sich erst langfristig monetarisieren.

Arbeitgeberseitige Investition in besser ausgebildete Arbeitskräfte

Die Bildungsrendite eines Praktikums kann auch arbeitgeberseitig betrachtet werden. Arbeitgeber tragen zur Ausbildung von jungen Arbeitnehmern in Form von Praktika bei. Inwiefern Arbeitgeber während der Ausbildung von den Lernenden profitieren ist unklar, wie schon die Analyse von Lehrlingsausbildungen in der Schweiz gezeigt haben. Im Falle der Lehrlingsausbildung wurde die Schlussfolgerung gemacht, dass Arbeitgeber häufig erst dann von ihren Auszubildenden profitieren, wenn diese nach Abschluss der Ausbildung in den jeweiligen Betrieben bleiben. Zwar unterscheiden sich Lehrstellen und Praktika insbesondere in Bezug auf die Dauer und Inhalte der Anstellung, sie teilen aber den Aspekt der praktischen Ausbildung im Beruf.

Das Anbieten von Ausbildungs- wie auch Praktikumsplätzen kann als Beitrag zum öffentlichen Gut ‚Bildung‘ betrachtet werden. Ob Arbeitgeber in Zukunft von den ausgebildeten Arbeitskräften profitieren (z.B. durch eine Festanstellung) ist unsicher, da sie auch in anderen Betrieben oder selbständig ihre berufliche Laufbahn fortsetzen können. Arbeitgeber, die selbst keinen Beitrag zur Bildung in Form von Ausbildungs- und Praktikumsplätzen leisten, sind in dieser Betrachtung Trittbrettfahrer, die von besser ausgebildeten Arbeitskräften profitieren, ohne einen Beitrag zu dieser Bildung geleistet zu haben. Die Unsicherheit für Arbeitgeber, ob sie in Zukunft von besser ausgebildeten Arbeitskräften profitieren können, kann einen weiterer Grund dafür, warum Praktika relativ tief entlohnt werden.

Welche Praktika sind problematisch

In der bisherigen Diskussion stand der Ausbildungsaspekt von Praktika im Vordergrund. In vielen Kritiken zu Praktika wird Arbeitgebern vorgeworfen, Praktikanten die Arbeit von regulären Mitarbeitern zu übertragen oder Arbeiten zu geben, die ihnen keine Erfahrung am eigentlichen Beruf ermöglichen. Auch der Bund stellt in seiner Empfehlung zur Anstellung von Praktikanten fest, dass diese keine Mitarbeiter ersetzten sollen. Das Fehlen klarerer Richtlinien führt aber dazu, dass Praktikanten keine Möglichkeit haben, relevante Aufgaben und den Ausbildungsaspekt einzufordern.

Chancengleichheit

Eine weitere Problematik von Praktika betrifft vor allem junge Arbeitnehmer aus schlechteren finanziellen Verhältnissen. Wer ein Praktikum absolviert, das die Lebensunterhaltskosten nicht deckt, muss über die Anstellungsdauer auf Erspartes zurückgreifen oder finanzielle Unterstützung beziehen. Wer kein Erspartes hat oder keine finanzielle Unterstützung von Familie (oder Stipendien) erhält, wird also in den Semesterferien eher im Service aushelfen, als ein Praktikum zu absolvieren. Auch solche Neben- oder Sommerjobs bringen wichtige Erfahrungen mit sich. In vielen Branchen wird ein Praktikum jedoch höher gewertet als Serviceerfahrung. Die NZZ zitiert dazu einen Rekrutierungsverantwortlichen aus dem Finanzwesen: „Bewerbungen von Leuten ohne Praktikum prüfen wir erst gar nicht“. Praktika können in diesem Sinne eine Investition in die eigene Ausbildung sein, die man sich leisten können muss.

Fazit

Das Bundesamt für Statistik hat 2007 eine Analyse der Absolventenbefragungen publiziert, die sich mit der ‚Generation Praktikum‘ beschäftigt hat. Der Inhalt verschiedener Praktika und die Entlohnung sind darin jedoch nicht untersucht worden. Es kann also nicht beurteilt werden, ob die Praktika den Bildungsaspekt erfüllen und ob die Entlohnung gerechtfertigt ist. Die Debatte um Praktika begleitet die Schweiz schon eine Weile. Es wäre wünschenswert, diese Analyse mit aktuelleren Daten fortzusetzen und zu erweitern. Insbesondere Arbeitsinhalte und Löhne sollten dabei stärker in den Fokus geraten, um der Debatte eine angemessene Datengrundlage zu bieten und festzustellen, ob und wo Handlungsbedarf zum Schutz junger Arbeitnehmer besteht.

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Wirksamkeit von Corona-Massnahmen

Desinfektionsmittel und Maske
06.07.2020, von Samuel Rutz, Matteo Mattmann, Ann-Kathrin Crede, Michael Funk, Anja Siffert und Melanie Häner

Nachdem während rund zwei Monaten Massnahmen des Bundes zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in Kraft waren, erfolgten ab dem 27. April erste Lockerungsschritte. Mit Blick auf eine mögliche "zweite Welle" wurde Swiss Economics vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) beauftragt, auf Basis einer Meta-Analyse evidenzbasierte Aussagen zur Wirksamkeit verschiedener Corona-Massnahmen zu treffen, resp. zu beurteilen, welche Massnahmen bei einem erneuten Anstieg der Infektionszahlen am angebrachtesten wären.

Aus der Meta-Analyse von über 80 Studien, davon 54 als für die Schweiz relevant eingestuft, resultieren die folgenden wichtigsten Erkenntnisse:

  • In der Kategorie der Mobilitätsmassnahmen sind Quarantänemassnahmen für infizierte Personen und Personen, die in Kontakt zu Infizierten standen, von hoher Wichtigkeit.
  • Bezüglich der Hygienemassnahmen resultiert, dass vor allem Masken – falls von infizierten Personen getragen – helfen, die Verbreitung des Virus zu reduzieren.
  • Abstandsmassnahmen, auch als «Social Distancing»-Massnahmen bekannt, haben einen starken Einfluss auf die Eindämmung von COVID-19 und gehen mit einer signifikanten Reduktion der Infektionen einher. Social Distancing wird von einigen Studien als die wichtigste Massnahme überhaupt beurteilt.
  • Beschränkungen und Verbote grosser Menschenansammlungen leisten einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung des Virus. Die Bedeutung von Veranstaltungsmassnahmen steht aber in engem Zusammenhang mit der nicht endgültig geklärten Bedeutung der Übertragung von COVID19 durch Aerosole und Superspreader.
  • Schulschliessungen tragen zur Eindämmung der Pandemie bei. Die Heterogenität der Studienergebnisse bezüglich der konkreten Wirksamkeit ist allerdings hoch.
  • Tracing- und Testing-Massnahmen sind relativ effektiv und kostengünstig. Insbesondere Appbasiertes Tracing reduziert die Dauer der Kontaktaufnahme zu potenziell infizierten Personen und damit das Risiko weiterer Ansteckungen.

Zur Studie

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Sharing Economy: Verhalten von Airbnb

Wohnung
22.06.2020, Interview mit Michael Funk

Airbnb wurde von der Corona-Krise hart getroffen. In einem Beitrag des Wirtschaftsmagazins ECO sieht Michael Funk im Verhalten von Airbnb ein Musterbeispiel für mehrseitige Internetplattformen: Airbnb schützt zuerst sein wichtigstes Kapital, das Vertrauen der Kunden in die Plattform. Die Kosten der Stornierungen werden von den Vermietern getragen. Erst in einem zweiten Schritt werden einzelne Vermieter gezielt unterstützt. Damit kann Airbnb voraussichtlich verhindern, in eine Abwärtsspirale mit abnehmenden Kundenzahlen auf beiden Marktseiten zu geraten. Ob Airbnb überleben kann, hängt allerdings davon ab, wie die Corona-Krise das Reiseverhalten der Menschen langfristig beeinflusst.

Zur Sendung von ECO im Schweizer Fernsehen.

 

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Die Rolle von Vertrauen und Reziprozität für #HomeOffice

23.06.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unseren bisherigen Beiträgen zu Verhaltensökonomik und Coronakrise haben wir uns mit folgenden Themen beschäftigt: #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut, der Psychologie von Hamsterkäufen, der grossen Wirkung von kleinen Massnahmen, der Rolle von Referenzpunkten für die Wahrnehmung der Lockerungsmassnahmen und dem #MoralDilemma zwischen knappen Ressourcen und dem unantastbaren Wert eines Menschenlebens. Im nachfolgenden Beitrag geht es um #HomeOffice und welche Rolle Vertrauen und Reziprozität dabei spielen.

Von heute auf morgen ins Homeoffice

Als der Bundesrat am 16. März die ausserordentliche Lage ausrief und die Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor dem Coronavirus verschärfte, musste alles ganz schnell gehen. So wechselten viele Arbeitnehmer mit Bürojobs mehr oder weniger von heute auf morgen ins Homeoffice. Für viele war dies das erste Mal. Zunächst einmal galt es, den Arbeitsplatz zu Hause einzurichten und sich mit den neuen Kommunikationsmitteln vertraut zu machen. Seither haben sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer Erfahrungen mit Homeoffice gesammelt und die damit verbundenen Vor- und Nachteile für sich erfahren können. Zu Beginn dieser Umstellung waren vor allem Arbeitgeber skeptisch und fürchteten um die Produktivität ihrer Angestellten. Dafür gibt es eine ökonomische Erklärung.

Unvollständige Arbeitsverträge

Gemäss der Prinzipal-Agenten Theorie ist die Arbeitgeber-Arbeitnehmer Situation durch asymmetrische Informationen geprägt: Der Arbeitgeber kann das Verhalten seines Angestellten nicht vollständig beobachten. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem unvollständigen Vertrag. Im Standardmodell der Theorie antizipiert der Arbeitgeber, dass der Arbeitnehmer von sich aus nur die nötigste Arbeitsleistung erbringen wird, und wird seinen Arbeitnehmer darum maximal kontrollieren. Kann diese Kontrollausübung etwa wegen Homeoffice nicht mehr oder nur eingeschränkt stattfinden, wird der Arbeitnehmer gemäss Theorie seine Arbeitsleistung auf ein Minimum herunterfahren – zum Ärger des Arbeitgebers.

Kontrolle ist gut, aber ist Vertrauen besser?

Aus verhaltensökonomischer Sicht jedoch ist die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung durchaus vielschichtiger: In einem Experiment haben Falk und Kosfeld (2006) untersucht, wie sich Kontrolle durch den Arbeitgeber auf die Motivation des Arbeitnehmers auswirkt. Dafür haben sie zwei Szenarien verglichen: Im einem Szenario konnte der Arbeitgeber Kontrolle ausüben, indem er dem Arbeitnehmer eine Mindestvorgabe zur Arbeitsleistung machen konnte. In einem anderen Szenario konnte der Arbeitnehmer frei über die zu erbringende Arbeitsleistung entscheiden.

Die Ergebnisse zeigen, dass Kontrolle zu einer geringeren Arbeitsleistung geführt hat. Während die meisten Arbeitnehmer im Szenario mit Kontrolle nicht mehr als das vorgeschriebene Mass arbeiteten, erbrachten Arbeitnehmer ohne Kontrolle durch den Arbeitgeber eine höhere Arbeitsleistung. Dies kann mit Kontrollaversion erklärt werden: Die intrinsische Motivation kann durch Kontrolle verloren gehen, weil sie als Zeichen von Misstrauen gesehen werden kann. Dahingehen kann der Kontrollverzicht Ausdruck von entgegengebrachtem Vertrauen des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer sein.

An dieser Stelle kann der Arbeitgeber von positiver Reziprozität profitieren: Auf eine als positiv wahrgenommene Handlung (Vertrauen) reagieren die meisten Menschen mit einer ebenfalls positiven Antwort (höhere Arbeitsleistung). Vor diesem Hintergrund passt es, dass gemäss einer aktuellen Umfrage unter Schweizer Erwerbstätigen 72% der Befragten angeben, im Homeoffice entweder genauso produktiv oder produktiver als im Büro des Arbeitgebers zu arbeiten.

Homeoffice als neue Normalität?

Im Zuge der Lockerungsmassnahmen kehren mehr und mehr Arbeitnehmer in ihre Büros zurück. Gleichzeitig wagte Facebook-Chef Mark Zuckerberg die Prognose, dass in zehn Jahren rund jeder zweite Beschäftigte ausserhalb des Büros arbeiten wird. Arbeiten im Homeoffice könnte sich durch die Coronakrise also langfristig etablieren. Es ist unwahrscheinlich, dass Büros komplett verschwinden werden. Hingegen wäre ein Modell denkbar, in dem Arbeitnehmer ihre Arbeitswoche auf Homeoffice und das Büro des Arbeitgebers aufteilen. Auf längere Sicht bedeutet dies, dass Vertrauen und eine Vertrauenskultur zu einem Wettbewerbsvorteil von Unternehmen werden könnten.

 

Quellen:

Falk, A., & Kosfeld, M. (2006). The hidden costs of control. American Economic Review, 96(5), 1611-1630.

 

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Kartellrecht und Corona-Krise: Differenzierte Einschätzung der Behörden

 

20.05.2020, von Tobias Binz, Christian Jaag und Samuel Rutz

Tobias Binz, Christian Jaag und Samuel Rutz diskutieren in einem Beitrag in der Ökonomenstimme die unterschiedlichen Reaktionen von Wettbewerbsbehörden auf die Corona-Krise. Die Ursache für die Unterschiede dürften primär in den unterschiedlichen verfolgten Wohlfahrtszielen liegen.

 

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Kein Giesskannenprinzip auf Kantonsebene

Schweizer Fahnen über einer Brücke

 

06.05.2020, von Matteo Mattmann und Samuel Rutz

In der Coronakrise unterstützen auch Kantone Unternehmen. Die Hilfe muss sehr gezielt und an Auflagen gebunden sein. Ein Kommentar von Matteo Mattmann und Samuel Rutz in der Finanz & Wirtschaft.

 

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Eine verhaltensökonomische Perspektive auf das Coronavirus: Knappe Ressourcen und der Wert eines Menschenlebens #MoralDilemma

Zettel im Restaurantfenster "Wem wird geholfen und wem nicht?"

 

30.04.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unseren bisherigen Beiträgen zu Verhaltensökonomik und Coronakrise haben wir uns mit #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut, der Psychologie von Hamsterkäufen, der grossen Wirkung von kleinen Massnahmen und der Rolle von Referenzpunkten für die Wahrnehmung der Lockerungsmassnahmen beschäftigt. Im nachfolgenden Beitrag geht es um den Konflikt zwischen knappen Ressourcen und dem unantastbaren Wert eines Menschenlebens.

Der Ursprung des Wirtschaftens

Die Ökonomie ist die Lehre vom Umgang mit knappen Ressourcen. So beinhaltet im Grundsatz jedes ökonomische Problem die Aufgabe, die theoretisch unbegrenzten menschlichen Bedürfnisse mit begrenzten Mitteln zu befriedigen. Das Ziel dabei ist, eine möglichst effiziente Zuteilung («Allokation») der Ressourcen vorzunehmen. In der derzeitigen Krise sind solche Allokationsentscheidungen von besonderer Bedeutung:

  • Ende März hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Richtlinien zur Triage auf Intensivstationen herausgegeben, um medizinischem Personal Hilfestellung zu geben. Konkret geht es um die Frage, welcher Patient im Zweifelsfall an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird und welcher nicht.
  • Um die wirtschaftlichen Folgen des Lockdown abzufedern, hat der Bundesrat ein umfangreiches Massnahmenpaket verabschiedet. Auch hier geht um die Allokation eines begrenzten Budgets. So galt zwischenzeitlich die Regel, dass lediglich jene Selbstständigen Entschädigungen erhalten, die nicht mehr arbeiten dürfen (z.B. Coiffeure). Solche, die zwar noch arbeiten dürften, aber keine Kunden mehr haben, hingegen nicht (z.B. Taxifahrer). Dies hat der Bundesrat mittlerweile angepasst.
  • Zunehmend wird auch gefordert, den direkten Nutzen des Lockdown ins Verhältnis zu sämtlichen ökonomischen, sozialen und psychologischen Folgekosten zu setzen. So kann der Lockdown einerseits Menschen vor dem Tod durch eine Covid-19-Erkrankung bewahren, gleichzeitig aber auch psychische und gesundheitliche Probleme begünstigen und somit Menschenleben gefährden.

Ein moralisches Dilemma

Die skizzierten Allokationsentscheidungen stellen alle ein moralisches Dilemma dar, weil Leid nicht verhindert werden kann, egal wie man sich entscheidet. Aus philosophischer Sicht können zwei Prinzipien herangezogen werden, um eine Handlung zu bewerten:

  • Gemäss dem Prinzip der Deontologie bemisst sich der Wert einer Handlung nach der damit verbundenen Handlung selbst (Kant 1785). Daraus leiten sich absolute und unantastbare Rechte und Pflichten des Menschen ab. Demnach darf ein Mensch nicht getötet werden, auch wenn dadurch mehrere Menschenleben gerettet werden könnten. Menschenleben können folglich nicht gegeneinander abgewogen werden.
  • Nach dem Prinzip des Utilitarismus bemisst sich der Wert einer Handlung nach ihren Konsequenzen (Mill 1863). Daraus folgt die Maxime, Nutzen und Kosten einer Handlung abzuwägen und diejenige zu wählen, die das beste Gesamtergebnis erzielt. Demnach darf ein Mensch getötet werden, wenn dadurch mehrere andere Personen gerettet werden können. Menschenleben können folglich gegeneinander abgewogen werden.

Verhaltensexperiment: Unterschiede zwischen Ländern

Auf die Frage, ob Menschenleben gegeneinander abgewogen werden dürfen, gibt es keine allgemeingültige Antwort. Beide genannten Prinzipien haben ihre Daseinsberechtigung. Nach welchen Kriterien aber wägen wir zwischen verschiedenen Menschenleben ab, wenn wir keine andere Wahl haben? Dies haben Awad et al. (2018) in einem gross angelegten Verhaltensexperiment untersucht, in dem sie Daten zu knapp 40 Mio. Entscheidungen in 233 Ländern gesammelt haben. In ihrem sogenannten Moral Machine Experiment wurden Versuchsteilnehmende gefragt, wie autonome Autos ein moralisches Dilemma lösen sollen, wenn ein Unfall nicht vermeidbar ist. Konkret wurde den Teilnehmenden ein Unfallszenario mit zwei möglichen Ausgängen gezeigt, wovon sie ihren präferierten Ausgang wählen sollten. Weltweit zeigten Teilnehmende eine starke Präferenz, Kinder statt ältere Menschen zu retten. Zudem zeigten sich kulturelle Unterschiede: Teilnehmende aus der Schweiz zeigten lediglich eine schwache Präferenz, eher gesunde Menschen zu retten. In einem Ranking von 117 Ländern belegten sie bei dieser Entscheidung Platz 84. Ähnlich entschieden Teilnehmende aus Deutschland (Platz 73), Finnland (Platz 80) oder Österreich (Platz 81). Diesen Ländern ist gemein, dass ihr gesellschaftlich verankertes Menschenbild deontologisch geprägt ist, die Würde eines jeden Einzelnen folglich im Zentrum steht. Grossbritannien hingegen belegte in diesem Ranking Platz 16, was damit erklärt werden kann, dass das utilitaristische Gedankengut im angelsächsischen Raum stark vertreten ist.

Offene Diskussion wagen

Um politische Massnahmen zu evaluieren, ist es durchaus üblich, eine implizite Bewertung des Lebens – des sogenannten statistischen Lebens – vorzunehmen. So können etwa die Kosten pro gerettetes Leben aus Massnahmen im Strassenverkehr mit Umweltschutzmassnahmen verglichen werden (Schleiniger, Blöchliger 2016). Im Gesundheitsbereich wird überprüft, ob eine medizinische Behandlung wirtschaftlich ist, Aufwand und Heilerfolg also im Verhältnis stehen. So hat das Bundesgericht 2010 eine Obergrenze von 100 000 Franken pro gerettetes Lebensjahr ausgesprochen. Die Kosten pro gerettetes Lebensjahr durch den derzeitigen Lockdown hingegen dürften sich auf ein Vielfaches belaufen.

Wie viel Geld ein Menschenleben letztlich kosten darf, mag eine heikle Frage sein. Ebenso, ob Menschenleben gegeneinander abgewogen werden können oder nicht. Unbeachtet von diesen Fragen findet schon jetzt eine Abwägung und Priorisierung der Interessen unterschiedlicher Personengruppen statt, ohne dass wir uns dessen bewusst sein mögen. Wieso dann nicht eine offene Diskussion darüber führen?

 

Quellen:

Awad, E., Dsouza, S., Kim, R., Schulz, J., Henrich, J., Shariff, A., Bonnefon, J.-F. & Rahwan, I. (2018). The moral machine experiment. Nature, 563(7729), 59-64.

Kant, I. (1785). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. J. F. Hartknoch Verlag.

Mill, J. S. (1863). Utilitarianism. In: Seven Masterpieces of Philosophy, pp. 337–383.

Schleiniger, R., & Blöchliger, J. (2006). Der Wert des Lebens: Methoden, Empirie, Anwendungen. Working Paper, ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

 

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Eine verhaltensökonomische Perspektive auf das Coronavirus: Referenzpunkte und die Wahrnehmung der Lockerungen #ExitStrategy

Leute stehen auf der Strasse an

 

23.04.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unseren bisherigen Beiträgen zu Verhaltensökonomik und Coronakrise haben wir uns mit #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut, der Psychologie von Hamsterkäufen und der grossen Wirkung von kleinen Massnahmen beschäftigt. Im nachfolgenden Beitrag geht es um die Frage, wie wir die schrittweise Lockerung der Massnahmen zum Schutz vor dem neuen Coronavirus wahrnehmen und was das mit Referenzpunkten zu tun hat.

Schrittweise Lockerung der Massnahmen

Es ist nun mehr als fünf Wochen her, dass der Bundesrat die ausserordentliche Lage in der Schweiz erklärt hat (16.03.2020). Die beschlossenen Massnahmen haben mittlerweile Wirkung gezeigt: das Virus verbreitet sich nicht mehr exponentiell, die Zahl der Neuinfektionen ist rückläufig. Gleichzeitig wächst in der Bevölkerung eine gewisse Ungeduld und der Ruf nach Lockerungen wird lauter. Mit grosser Spannung wurde daher die Bekanntgabe der Exit-Strategie des Bundesrates am 16. April erwartet. Diese beinhaltet, dass Spitäler ab dem 27. April wieder sämtliche (auch nicht-dringliche) Eingriffe vornehmen, Coiffeur-, Massage- und Kosmetikstudios ihren Betrieb wieder aufnehmen, und Baumärkte und Blumenläden öffnen können. Obligatorische Schulen und übrige Läden sollen ab dem 11. Mai, Hochschulen, Museen und Bibliotheken ab dem 8. Juni wieder öffnen. Gleichzeitig betont das Bundesamt für Gesundheit, es sei wichtig, dass jede/r Einzelne/r weiterhin die Hygiene- und Verhaltensregeln befolge und wenn möglich zu Hause bleibe. Das öffentliche Leben soll sich also schrittweise normalisieren. Bis wir so leben können wie vor der Krise, wird es aber noch eine ganze Weile dauern.

Besser oder schlechter? Eine Frage des Referenzpunktes

Die verhaltensökonomische Forschung hat gezeigt, dass Menschen sogenannte Referenzpunkt-abhängige Präferenzen haben, d.h. sie bewerten ein Ergebnis nicht alleinstehend, sondern im Verhältnis zu einem Referenzpunkt als Gewinn oder Verlust (Tversky, Kahnemann 1979). So wird beispielsweise eine Gehaltserhöhung nicht absolut bewertet, sondern im Vergleich zu einer Art «Nullpunkt», dem Referenzpunkt. Der Referenzpunkt kann auf unterschiedlichen Grössen basieren. Zunächst einmal kann er durch den aktuellen Zustand bestimmt werden (Status quo). Verdient ein Arbeitnehmer bei Stellenantritt CHF 65 000 und im zweiten Jahr CHF 68 000, so stellt dies nicht nur eine absolute Gehaltserhöhung dar, sondern wird auch tatsächlich als Gewinn wahrgenommen. Der Status quo als Referenzpunkt liefert in diesem Beispiel ein sehr intuitives Ergebnis. Anders verhält es sich, wenn der Referenzpunkt durch Erwartungen gebildet wird. Erwartet der Arbeitnehmer etwa, dass er im dritten Jahr CHF 75 000 verdient, bekommt dann aber lediglich CHF 72 000, so wird er die absolute Gehaltserhöhung relativ zu seinen Erwartungen als Verlust wahrnehmen. Denn schliesslich ist die tatsächliche Erhöhung kleiner ausgefallen als erhofft. Einen weiteren Referenzpunkt kann die Situation anderer Leute bilden. So würde sich der Arbeitnehmer in unserem Beispiel zwar prinzipiell über eine Gehaltserhöhung von 5% freuen. Erfährt er aber, dass sein Arbeitskollege bei sonst gleichen Rahmenbedingungen 10% mehr Gehalt bekommt, so kann diese neue Information den Referenzpunkt verschieben und aus einem tatsächlichen Gewinn einen empfundenen Verlust entstehen lassen. Nicht ohne Grund behandeln Unternehmen Informationen zu Gehältern meistens vertraulich.

Wir können mitentscheiden

Einerseits haben sich viele von uns an die derzeitige Situation und die damit verbundenen Massnahmen gewöhnt. So kann es fast unwirklich erscheinen, im Fernsehen die Aufzeichnung eines Sportevents oder Konzerts zu schauen, sind dort doch so viele Menschen zu sehen, die nicht genug Abstand voneinander halten. Andererseits ist der neue Alltag mit all den Einschränkungen eine Situation, an die wir uns gar nicht gewöhnen möchten. So erscheint die Vorstellung, bald wieder alle Freiheiten zurück zu haben, als etwas sehr Erstrebenswertes.

Wie wir die Lockerungen wahrnehmen, hängt auch davon ab, was unser Referenzpunkt ist:

  • Ist der Referenzpunkt der Status quo, also unsere derzeitige Situation, so stellen die Lockerungen eine Verbesserung und somit einen Gewinn dar;
  • Basiert unser Referenzpunkt auf dem historischen Zustand vor dem Ausbruch des Coronavirus, so müsste die Bilanz eher schlecht ausfallen: Die derzeit geltenden Massnahmen schränken uns immer noch ein und bedeuten einen Verlust;
  • Ausserdem kann die Bewertung der Lockerungen von unseren Erwartungen bezüglich einer möglichen Exit-Strategie abhängen. Sind wir davon ausgegangen, dass die Massnahmen unverändert fortbestehen und Lockerungen vorerst nicht in Frage kommen, so dürften wir positiv überrascht worden sein und die Lockerungen als Gewinn sehen. Haben wir hingegen erwartet, dass es schneller gehen würde, dürften wir trotz der Lockerungen einen Verlust empfinden. Das Ziel, keine zu hohen Erwartungen in der Bevölkerung zu wecken, könnte auch das eher defensive Vorgehen des Bundesrates erklären, das zuletzt immer wieder kritisiert wurde;
  • Schliesslich könnte die Wahrnehmung der Lockerungen vom Vorgehen anderer Länder abhängen. Vergleichen wir unsere Situation zum Beispiel mit jener in Österreich (bereits zahlreiche Lockerungsmassnahmen umgesetzt), fällt die Bewertung eher ernüchternd aus. Bildet der Referenzpunkt aber etwa ein Land wie Spanien (Ausgangssperre bis zum 9. Mai verlängert), so werden wir uns glücklich schätzen.

Wie wir unsere aktuelle Lage bewerten, kann also individuell sehr verschieden sein. Aus gesellschaftlicher Sicht lautet die gute Nachricht: den Referenzpunkt können wir bis zu einem gewissen Grad selbst setzen, und somit unseren Blick auf die derzeitige Situation (positiv) beeinflussen.

 

Quellen:

Tversky, A., & Kahneman, D. (1979). Prospect theory: An analysis of decision under risk. Econometrica, 47(2), 263-291.

 

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Der Preismechanismus und seine Grenzen

 

06.04.2020, von Melanie Häner

Preise widerspiegeln bekanntlich Informationen über Angebot und Nachfrage. Dadurch kommt ihnen eine wichtige Funktion in der Koordination von Produktions- und Konsumplänen zu. Hohe Preise signalisieren, dass ein Gut knapp ist. Dies beeinflusst die Anreize der Marktteilnehmer: Die Produzenten erhöhen ihre Produktionsmenge, während die Konsumenten ihre Nachfrage reduzieren. Preise sorgen also dafür, dass sich Angebot und Nachfrage ausgleichen.

Die beschriebene Lenkungsfunktion des Preismechanismus funktioniert allerdings nur, wenn sich die Preise frei im Wettbewerb bilden können.

Preismechanismus in Zeiten von Corona

Der Preismechanismus und dessen staatliche Regulierung werden auch im Zuge der Corona-Krise diskutiert. Ist das Angebot eines Gutes kurzfristig unveränderbar und schnellt die Nachfrage – aufgrund von Hamsterkäufen oder eines weltweit stark erhöhten Bedarfs an Medizinprodukten – in die Höhe, kann es zu starken Preisanstiegen kommen. Bilder von astronomischen Preisen für Desinfektionsmittel und Toilettenpapier kursierten in den vergangen Wochen in den sozialen Medien. Plattformanbieter wie Amazon reagierten, indem sie Verkäufer, welche solch hohe Preisforderungen aufgrund der Corona-Krise stellten, den Zugang zu ihrer Plattform verwehrten.

Zudem konnte auch die funktionierende Lenkungsfunktion des Preises beobachtet werden. Die hohen Preise führten dazu, dass die Anbieter die Produktionsmengen ausdehnten. So begannen etwa Schweizer Apotheken selbst Desinfektionsgel herzustellen und eine englische Fernseher Fabrik wurde kurzerhand zum Produktionsstandort für Gesichtsmasken umfunktioniert.

In den vergangenen Wochen wurde aber weltweit vermehrt die Forderung laut, dass staatlich in den Preisbildungsmechanismus eingegriffen werden müsse, um die Konsumenten zu schützen und die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern sicherzustellen.

Eingriff der (Wettbewerbs-)behörden?

Die englische Wettbewerbsbehörde CMA äusserte sich bereits anfangs März zur Gefahr von Wucherpreisen. Sie teilte auf ihrer Webseite mit, dass die Händler die derzeitige Situation nicht ausnutzen dürften. So werde sie in dieser Krisenzeit vermehrt prüfen, ob überhöhte Preise gesetzt würden. Aber ist dies wirklich eine Frage, mit der sich die Wettbewerbsbehörden befassen sollten?

In der Schweiz ist dies nicht primär die Aufgabe der Wettbewerbskommission (WEKO). Kartellrechtliche Interventionsmöglichkeiten bestehen nämlich erst, wenn ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung oder eine illegale Absprache, z.B. bezüglich Preisen, Mengen oder Gebieten, vorliegt. Dies stellte die Wettbewerbskommission (WEKO) denn auch kürzlich in ihrer Medienmitteilung klar. Ihr Auftrag ist es, dafür zu sorgen, dass der wettbewerbliche Rahmen für eine funktionierende Preisbildung gegeben ist. Auch der Preisüberwacher ist nur dort für eine Preisbeurteilung zuständig, wo sich die Preise nicht im freien Wettbewerb gebildet haben. Bei den kürzlich erhaltenen zahlreichen Konsumentenmeldungen zu vermeintlich ungerechtfertigt hohen Preisen für Desinfektionsmittel und Schutzmasken versucht er zwar zu vermitteln. Direkt intervenieren könne er aber nicht und gesetzlich verboten seien diese hohe Preise nicht, teilte Stefan Meierhans am 4. April in einem Interview mit.

Sofern dies politisch gewünscht ist, gibt es aber durchaus Möglichkeiten für staatliche Eingriffe in die Preisbildung ausserhalb des Kartellgesetzes. Beispiele hierfür sind die Miet- und Milchpreisregulierung, die spezialgesetzlich geregelt werden. Es gilt jedoch zu beachten, dass durch solche staatlichen Eingriffe in den Preisbildungsmechanismus immer auch die Signal- und Lenkungsfunktion des Preises aufgegeben wird. Preise haben schliesslich die wichtige Funktion, auf Knappheiten hinzuweisen und Anreize zu deren Beseitigung zu setzen. Es muss deshalb immer auch die Frage gestellt werden, ob der Staat tatsächlich in der Lage ist, einen «besseren» Allokationsmechanismus als der Markt bereitzustellen.

Unter den möglichen wirtschaftspolitischen Instrumenten in Zeiten der Corona-Krise ist somit insbesondere der Eingriff in die Preisbildung mit erheblichen Risiken verbunden. Dadurch könnten die falschen Signale an Produzenten und Konsumenten gesendet werden. Es ist somit wichtig, in erster Linie mit allen Mitteln die Angebotsknappheit zu reduzieren. Ein Eingriff in den Preismechanismus könnte dem im schlimmsten Fall gerade entgegenwirken.

 

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Eine verhaltensökonomische Perspektive auf das Coronavirus: Nudges - Kleine Massnahmen mit grosser Wirkung #WashYourHands

 

01.04.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unseren ersten beiden Beiträgen zu Verhaltensökonomik und Coronakrise haben wir uns mit #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut und der Psychologie von Hamsterkäufen beschäftigt (#VolleRegale). Im nachfolgenden Beitrag geht es um die grosse Wirkung von kleinen Massnahmen und wie deren Einhaltung gefördert werden kann.

Wie die Politik Einfluss nehmen kann

Möchte die Politik das Verhalten ihrer Bevölkerung beeinflussen, so stehen ihr unterschiedliche Instrumente zur Verfügung. So kann sie beispielsweise Verbote aussprechen – etwa ein Parkverbot in einer Quartierstrasse – und dessen Nicht-Einhaltung mit einer Geldbusse bestrafen. Oder sie kann positive und negative finanzielle Anreize setzen: Etwa indem sie den Austausch einer alten Ölheizung durch einen Fernwärmeanschluss subventioniert, oder Zigaretten mit hohen Steuern belastet. Im Vergleich zu diesen klassischen Instrumenten verfolgt das sogenannte Nudging (= Anstupsen) einen anderen Ansatz: Die Idee dabei ist, Menschen durch kleine Veränderungen in der Entscheidungsarchitektur zu «besseren» Entscheidungen zu stupsen (Thaler, Sunstein 2008). So konsumieren Gäste einer Cafeteria mehr Obst, wenn dieses am Anfang der Essensausgabe platziert wird statt am Ende. Oder Kunden eines Stromanbieters wählen eher grünen Strom, wenn dieser per Default bereits ausgewählt ist. Zentral dabei ist, dass den Leuten keine Vorschriften gemacht werden, sondern sie nach wie vor frei entscheiden können. Zudem ist die Erkenntnis wichtig, dass es so etwas wie eine neutrale Entscheidungsarchitektur nicht gibt, d.h. Menschen immer in irgendeiner Form gestupst werden. Schliesslich kann das Essen in der Cafeteria nicht ohne Reihenfolge angeordnet sein. Die Forschung hat gezeigt, dass Nudges Verhalten signifikant beeinflussen und wohlfahrtssteigernde Wirkung haben können. Einige Regierungen, etwa in Grossbritannien, haben sogenannte Nudge Units aufgebaut, welche die Wirtschaftspolitik beraten und mitgestalten.

In der derzeitigen Krise wenden Regierungen eine Vielzahl an Instrumenten an, um das Verhalten ihrer Bevölkerung zu beeinflussen und damit zur Eindämmung bzw. Verlangsamung der Ausbreitung des Coronavirus beizutragen. Während für einige Bereiche des öffentlichen Lebens nur klassische Massnahmen wie etwa Verbote in Frage kommen, um ein bestimmtes Verhalten herbeizuführen (dazu zählen die Schliessung von Kitas, Schulen und Restaurants oder Verbote von Veranstaltungen und Menschenansammlungen mit mehr als 5 Personen), sind in anderen Bereichen solch strikte Massnahmen weder umsetzbar noch wünschenswert. Ein solcher Bereich umfasst Hygiene- und Verhaltensvorschriften, die zur Zeit den Alltag in zahlreichen Ländern prägen. Dort können Nudges zum Einsatz kommen, welche den Leuten eine Hilfestellung geben, das «richtige» Verhalten leichter und nachhaltiger umzusetzen (Sunstein 2014).

"So schützen wir uns"

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat unter dem Motto «So schützen wir uns» eine umfassende Kampagne lanciert, die mit verständlich aufbereiteten Informationen und ansprechend gestalteten Bildern und Videos über die einzuhaltenden Hygiene- und Verhaltensvorschriften aufklärt. Zu den wichtigsten Vorschriften zählen das Abstand halten zu anderen Personen und das regelmässige und gründliche Händewaschen, welches die Übertragung von Krankheiten nachweislich reduzieren kann. Dennoch zeigen Studien, dass sich viele Leute die Hände nicht oft oder gründlich genug waschen. Warum ist das so? Gründe dafür könnten der Mangel an Wissen, Selbstregulierung oder Motivation sein.

Welche Nudges können konkret eingesetzt werden, um die gewünschten Verhaltensweisen zu fördern?

  • Soziale Normen: In einer kontrollierten Feldstudie (auch randomized controlled trial genannt) konnte gezeigt werden, dass Händewaschen durch den Nudge soziale Normen gefördert werden kann. So wuschen sich die Leute in einem öffentlichen WC dann häufiger die Hände, wenn ein Schild angebracht war, das auf das Händewasch-Verhalten anderer Leute aufmerksam machte (im Vergleich zu einer Kontrollgruppe) (Judah et al. 2009). Informationen über das Verhalten anderer bzw. über die soziale Norm können Verhalten massgebend beeinflussen.
  • Einfachheit/Benutzerfreundlichkeit: Um alle Krankheitserreger loszuwerden, wird empfohlen, für mindestens 20 Sekunden die Hände zu waschen. Anstatt im Kopf bis 20 zu zählen, kann es helfen, während des Händewaschens zweimal Happy Birthday zu singen, ein Nudge namens Einfachheit oder Benutzerfreundlichkeit. So kann ein bestimmtes Verhalten gefördert werden, wenn es möglichst einfach umsetzbar ist.
  • Erinnerungen: Um ihre Kunden auf die geltenden Vorschriften aufmerksam zu machen, zeigen Supermärkte auf den digitalen Anzeigen ihrer Waagen die Vorschriften des BAG (Nudge Erinnerung). Es konnte gezeigt werden, dass bestimmte Verhaltensweisen hervorgerufen werden können, wenn Menschen immer wieder daran erinnert werden.
  • Visuelle Hilfen/Warnungen: Damit die Kunden den Mindestabstand von zwei Metern einhalten, haben Supermärkte auf dem Fussboden Markierungen angebracht. So zeigen beispielsweise Linien jeweils den zwei-Meter-Abstand an (Nudge visuelle Hilfe), Warnzeichen hingegen Stellen, wo sich niemand aufhalten soll (Nudge Warnung). So ist bekannt, dass visuell auffällige Hinweise oder Warnungen Verhalten in eine gewünschte Richtung lenken können.

 

Quellen:

Richard H. Thaler, Cass R. Sunstein (2008). Nudge: Improving decisions about health, wealth, and happiness, Yale University Press, New Haven.

Sunstein, C. R. (2014). Nudging: a very short guide. Journal of Consumer Policy, 37(4), 583-588.

Judah, G., Aunger, R., Schmidt, W. P., Michie, S., Granger, S., & Curtis, V. (2009). Experimental pretesting of hand-washing interventions in a natural setting. American Journal of Public Health, 99(2), 405-411.

 

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COVID-19 Neuansteckungen: Die Massnahmen des Bundesrates zeigen Wirkung

 

26.3.2020, von Urs Trinkner

Die kumulierten Fallzahlen von positiven COVID-19 Tests sind in den Medien allgegenwärtig. In diesen Graphiken schwierig abzulesen ist die Entwicklung der täglichen Neuansteckungen. Die vom Berner Informatiker Daniel Probst aufgesetzte Seite www.corona-data.ch bietet aktuelle Daten und Abbildungen zu COVID-19 Fallzahlen. Der Blick auf die täglichen neu erfassten Infektionen ("new cases per canton", vgl. Bild, Stand 26.3., 19 Uhr) zeigt:

  • Die neu gemeldeten über die Kantone aggregierten Fallzahlen sind bis am 19./20 März grob einem exponentiellen Verlauf gefolgt.
  • Seit dem Peak vom 20. März liegen die täglichen Neumeldungen unter diesem Niveau mit tendenziell linearem, nicht zunehmendem Verlauf.

Was lässt sich hieraus folgern?

1. Die Massnahmen des Bundesrates zeigen Wirkung: Gemäss BAG beträgt die Inkubationszeit, also die Zeit zwischen der Ansteckung bis zum Auftreten der ersten Symptome, meist 5 Tage. Der Bundesrat hat insbesondere am 13. und 16. März einschneidende Massnahmen beschlossen, indem er Anlässe verboten und alle Läden, Märkte, Restaurants, Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe geschlossen hat. Die vom Bundesrat getroffenen Massnahmen scheinen demnach effektiv in der Verlangsamung der Verbreitung zu sein: Der zunächst exponentielle Verlauf ist im erwarteten Zeitfenster zwischen 18. und 21. März von einem linearen Verlauf der Neuansteckungen abgelöst worden. Insofern drängen sich - so das Level von Neuansteckungen tragbar ist - keine weitergehenden Verschärfungen auf.

2. Befürchteter "Kollaps" der Spitäler unwahrscheinlich: Bleibt der nunmehr lineare, nicht zunehmende Verlauf von Neuansteckungen bestehen, werden sich in den Spitälern Corona-bedingte Neueintritte und Austritte mit einer gewissen Verzögerung die Waage halten. Liegt die durchschnittliche Verweildauer in Spitälern unter 8 Tagen, dürfte dies schon sehr bald der Fall sein (gemäss Prof. Busse von der TU Berlin liegt die durchschnittliche Verweildauer bei Corona-Patienten bei 3.5 Tagen, bei beatmungspflichtigen Intensivpatienten bei sieben Tagen, Bericht). Da aktuell in den Spitälern noch freie Betten vorhanden sind und zusätzliche Kapazität noch geschaffen wird, erscheint deren Kollaps als unwahrscheinlich.

Es ist zu hoffen, dass sich diese Trends in den nächsten Tagen bestätigen. Dies würde Raum geben, die bestehenden Einschränkungen punktuell zu lockern, um deren negativen volkswirtschaftlichen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen zu verringern.

 

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Disclaimer: Die obigen Folgerungen stehen und fallen mit der Güte der Datengrundlage. Die Daten-Quellen von corona-data.ch sind im Detail ausgewiesen. Unklar ist das Ausmass der Dunkelziffer, der Grad der Immunisierung der Bevölkerung, die Zeit der Behörden bei der Erfassung der Fälle und die Entwicklung der Anzahl der durchgeführten Tests in den vergangenen Tagen und Wochen. Sind über die Zeit mehr Tests gemacht worden, stützt dies die obigen Aussagen.

Update mit Folgerungen, wie der Lockdown gezielt gelockert werden könnte: Kommentar des Autors vom 7.4.2020 in der Handelszeitung.

Eine verhaltensökonomische Perspektive auf das Coronavirus: Kein Grund für Hamsterkäufe #VolleRegale

Leere Regale im Laden

 

24.3.2020, von Ann-Kathrin Crede

In unserem ersten Beitrag haben wir uns mit #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut beschäftigt. Im nachfolgenden Beitrag geht es um die verhaltensökonomische Betrachtung von Hamsterkäufen und wie man diesen begegnen kann. #VolleRegale

In guten Zeiten sorglos, Hamsterkäufe in der Krise

Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) empfiehlt Schweizer Haushalten für den Fall eines vorübergehenden Versorgungsengpasses einen Notvorrat an Lebensmitteln zu halten. Konkret soll eine Vorratshaltung von lagerfähigen Lebensmitteln wie Reis, Teigwaren und Konserven für 7 Tage sowie von Trinkwasser für 3 Tage (9 Liter pro Person) empfohlen. Wie eine Studie von Agroscope aus dem Jahr 2018 zeigt, lagen die Nahrungsmittel- und insbesondere die Trinkwasservorräte in grösseren Teilen der Bevölkerung unter den Empfehlungen. Zudem äusserten weniger als 20% der Befragten eine deutliche Befürchtung, dass ein solches Krisenereignis in der Schweiz eintreten könnte.

Während sich die Menschen in normalen Zeiten zurückhaltend zeigen, den Empfehlungen des BWL zur Vorratshaltung nachzukommen, lässt sich in der derzeitigen Krise ein anderes Extrem beobachten: Hamsterkäufe. Im Supermarkt und in den Medien hat man in den vergangenen Tagen eindrückliche Bilder gesehen: Leere Regale, volle Einkaufswagen, Streit um die letzte Packung Toilettenpapier. Politik und Wirtschaft haben reagiert, indem sie über die Sicherstellung der Inlandproduktion und des Imports von Gütern des täglichen Lebens informiert haben. Sie haben die Bevölkerung explizit aufgerufen, von Einkäufen abzusehen, die über die übliche Vorratshaltung hinausgehen. Wiederum haben manche Supermärkte Mengenbegrenzungen pro Kunde festgelegt und an die Solidarität mit anderen Kunden appelliert.

Imitationsverhalten und Herdentrieb

Unter der Annahme, dass Menschen den Informationen über eine sichergestellte Versorgung vertrauen und regelmässig einkaufen gehen können, gibt es aus rationaler Sicht keinen Grund, Hamsterkäufe zu tätigen. Weshalb tun es die Leute trotzdem? Die Verhaltensökonomik kann Erklärungsansätze liefern.

Ein mögliches Motiv ist sogenanntes Imitationsverhalten (Apesteguia et al. 2007): Dieses ermöglicht Menschen in komplexen oder neuen Situationen vereinfachend eine Entscheidung zu treffen, anstatt eine eigenständige Analyse des Entscheidungsproblems vorzunehmen. Die Daumenregel oder sogenannte Heuristik lautet in diesem Fall das zu tun, was andere bereits getan haben. So kann es sein, dass ein Kunde das Verhalten eines anderen Kunden imitiert und folglich auch Hamsterkäufe tätigt, wenn er diesen dabei beobachtet.

Eng damit verbunden ist das Herdenverhalten (Scharfstein, Stein 1990): Dieses beschreibt das Phänomen, den Entscheidungen anderer zu folgen, auch unter der Annahme, dass sich diese wohl nicht alle täuschen können. So kommen viele Menschen zum Ergebnis, dass es sich um ein gutes Restaurant handeln muss, wenn es rege besucht ist, und wählen dieses ebenfalls aus. Bezogen auf das Supermarkt-Szenario bedeutet dies, dass ein Kunde Hamsterkäufe tätigt, weil er einer Herde folgt, von der er annimmt, dass diese sich wohlüberlegt verhält. Während diese Daumenregel in vielen Situationen durchaus zu guten Entscheidungen führen kann, besteht aber auch die Möglichkeit, dass sich der Erste in einer Herde täuscht (der Mensch handelt bekanntlich nicht immer rational) und somit ein falsches Signal aussendet. Herdenverhalten bei Investitionsentscheidungen in Finanzmärkten hat dies gezeigt.

Was kann man gegen Hamsterkäufe tun?

Ein wichtiger Beitrag sind zuverlässige und transparente Informationen zur tatsächlichen Versorgungssituation. So hat beispielsweise das BWL zur aktuellen Situation informiert und herausgestrichen, dass auch in der derzeitigen Krise die Inlandproduktion sowie der Import von Gütern des täglichen Lebens sichergestellt ist. Darüber hinaus hat das BWL eine lange Liste mit Antworten auf FAQs veröffentlicht, um falschen Informationen und unbegründeten Befürchtungen zu Nahrungsmittelknappheit und Rationierungen zu begegnen. Auch Handelsverbände haben jüngst immer wieder deutlich gemacht, dass die Warenversorgung sichergestellt ist, es teilweise einfach nur Zeit brauche, die Regale wieder aufzufüllen. Ein weiterer Beitrag kann darin bestehen, an das Gemeinwohl aller zu erinnern und an soziale Präferenzen zu appellieren. So haben manche Supermärkte bei der Rationierung von einer Packung Toilettenpapier pro Kunde um Verständnis und Solidarität mit Mitmenschen gebeten. Schliesslich können auch hier die Medien einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie nicht vermehrt von leeren Regalen berichten, sondern von den gefüllten Verteilzentren und Sonderschichten der Logistikmitarbeiter. Es mag gerade eine Ausnahmesituation sein, ein Grund für eine #toiletpapercrisis besteht aber sicherlich nicht.

 

Quellen:

Apesteguia, J., Huck, S., & Oechssler, J. (2007). Imitation—theory and experimental evidence. Journal of Economic Theory, 136(1), 217-235.

Scharfstein, D. S., & Stein, J. C. (1990). Herd behavior and investment. The American Economic Review, 80(3), 465-479.

 

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Bemessung von Covid-19 Schäden für Unternehmen und Betriebe

Leere Bahnhofshalle

20.3.2020, von Tobias Binz

Bereits heute ist klar: die wirtschaftlichen Schäden von Covid-19 werden ein riesiges Ausmass annehmen. Die Umsatzeinbrüche fallen teils so massiv aus, dass in gewissen Branchen auch führende Unternehmen um ihr Überleben fürchten müssen. Besonders trifft es Industrien, die Menschen miteinander in Kontakt bringen. Viele der betroffenen Unternehmen, inbesondere aus der Reisebranche, Unterhaltungsindustrie und Gastronomie, werden die entstandenen Schäden nicht allein stemmen können. Bereits hat die Politik die Möglichkeiten zur Kurzarbeit ausgedehnt und umfangreiche Liquiditätshilfen bereitgestellt. Viele Firmen werden jedoch zusätzlich auf Kulanz seitens Zulieferer oder Vertragspartner angewiesen sein.

Damit Firmen abschätzen können, wie hoch der ihnen entstandene Schaden ausfällt, sollten sie die ökonomischen Grundzüge der Schadensquantifizierung kennen. Grundlage bildet in der Regel ein kontrafaktisches Referenzszenario, das beschreibt, wie die Unternehmensgewinne ohne den Schadenstreiber (also ohne den durch Covid-19 bedingten Geschäftsrückgang) ausgefallen wären. Über den Vergleich des kontrafaktischen mit dem tatsächlichen Ergebnis kann der Schaden ermittelt werden.

Bei der Herleitung des sogenannten "But For"-Szenarios sollten jedoch einige klassische Fallstricke vermieden werden.

Mengenverluste können kaum vollständig über Kosteneinsparungen kompensiert werden

Mengen- bzw. Umsatzverluste schmäleren den Gewinn substanziell, da i.d.R. nicht Kosten im gleichen Umfang reduziert werden können. Ein klares Verständnis der Kostenstruktur ist bei der Schadensschätzung deshalb zentral. Investitionskosten und fixe Kosten wie Mieten oder Löhne fallen auch bei ausbleibenden Umsätzen an. Variable Kosten hingegen, beispielsweise für Material oder Betriebsmittel, werden unter Umständen durch den Absatzeinbruch reduziert. Je nach Ausgestaltung der angewandten Methodik zur Schadensbestimmung muss die Schadenssumme entsprechend verringert werden.

Ob und welche Kosten vermieden werden, hängt von der spezifischen Situation ab und kann nicht direkt aus der Kostenrechnung abgeleitet werden. Ein relevanter Faktor kann beispielsweise die Länge des Zeitraums zwischen Bekanntwerden und Eintreten eines Nachfrageeinbruchs darstellen. So wird die Schadenshöhe für den Veranstalter eines Grossanlasses davon abhängen, in welcher Planungsphase die Absage des Anlasses beschlossen werden musste. Bei ausreichender Vorlaufzeit können z.B. Kosten für Security, Catering oder andere Zulieferer vermieden werden.

Aufgeschoben ist nicht immer aufgehoben

Die Art der vom Mengenausfall betroffenen Güter kann ebenfalls einen Rückschluss auf die Schadenshöhe ermöglichen. Von Relevanz ist beispielsweise der Unterschied zwischen haltbaren ("durable") und nicht-haltbaren ("non-durable") Gütern. Bei letzteren handelt es sich um Güter, die dem Konsumenten einen momentanen Nutzen stiften, etwa verderbliche Lebensmittel, Restaurantbesuche, Sport- und Kulturveranstaltungen. Umsatzeinbrüche bei Gütern dieser Art werden nach Abklingen der Krise mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht oder nur zu einem Teil kompensiert werden können. Bei haltbaren Gütern hingegen handelt es sich um Autos, Möbel, Haushaltsgeräte, etc. Die Kaufentscheide von Konsumenten reagieren für diese Güter typischerweise relativ sensitiv auf Veränderungen der Wirtschaftslage. Dies bedeutet, dass der momentan beobachtbare Absatzeinbruch zum Teil nach der Krise wieder kompensiert werden kann. Viele Konsumenten, die in der momentan unsicheren Lage auf gewisse Anschaffungen verzichten, werden diese vermutlich nachholen, wenn die Konjunkturaussichten sich wieder verbessern.

Auch Margenreduktionen sollten sich in der Schadensbestimmung reflektieren

Viele Firmen versuchen, die drohenden Mengenausfälle über Anpassungen des Angebots abzufedern. Restaurants bieten vermehrt Take-Away und Heimlieferungen an. Läden versuchen online, alternative Absatzkanäle zu etablieren. Überall werden Produkte mit stark rabattierten Preisen angeboten. Firmen nehmen dabei in der Regel eine Margenreduktion in Kauf, um ihre Produkte gegenüber den Konsumenten attraktiver (bzw. überhaupt zugänglich) zu machen. Eine zu einfache Methodik zur Schadensbestimmung - zum Beispiel einzig basierend auf Mengenveränderungen - resultiert somit leicht in einer Unterschätzung des tatsächlichen Schadens.

Bestehende Instrumente decken die entstandenen Schäden höchstens teilweise

Der Bundesrat hat der Bevölkerung und Unternehmen am 20. März finanzielle Mittel in der Höhe von insgesamt rund CHF 42 Milliarden für Liquiditätshilfen, Erwerbsausfallentschädigungen für Selbständige und Eltern sowie Kurzarbeit angekündigt. Von diesen Mitteln kompensiert einzig die Kurzarbeit entstandene Schäden von Unternehmen und Betrieben. Wie das diesbezügliche Anmeldeformular des Amts für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zürich zeigt, werden die Lohnkosten für Anteile der fix eingestellten Belegschaft, die nicht mehr ausgelastet werden können, übernommen. Entgangene Umsatzerlöse sowie weiterhin anfallende Fixkosten werden den Unternehmen nicht entschädigt. Insofern wird die eigentliche Schadensfrage erst noch beantwortet werden müssen. Für Unternehmen empfiehlt sich eine vorsorgliche Dokumentation der erlittenen Schäden.

 

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Internationale Corona-Policies: Der Versuch einer Kategorisierung

Leeres Gleis

19.3.2020, von Matteo Mattmann

In vielen Bereichen wägen wir tagtäglich unsere Gesundheit gegen ökonomische und andere Interessen ab. Ein typisches Beispiel umfasst den Strassenverkehr: Nach wie vor stirbt rund jeden Tag eine Person bei einem Verkehrsunfall in der Schweiz. Offensichtlich wird hier der Nutzen des Verkehrs – aus ökonomischer Sicht oder unter Komfortaspekten – höher gewichtet als die rund 300 Menschenleben pro Jahr. Auch in punkto Ernährung verhalten wir uns oft gegen unsere Gesundheit: Wir essen zu süss, zu fettig, zu salzig und, vor allem, zu viel und trinken dazu gerne auch das eine oder andere Glas Wein. Möglicherweise rauchen wir auch. Wir tun dies, obwohl wir uns den gesundheitlichen Konsequenzen bewusst sind.

Obwohl dies für viele Menschen nur schwer zu akzeptieren ist (denn: «ein Menschenleben hat keinen Preis»), wägt auch die Politik unsere Gesundheit ständig gegen ökonomische Überlegungen ab: Wie viel darf unser Gesundheitssystem kosten? Wie viele Mittel wollen wir für Unfallpräventionskampagnen ausgeben? Wie strikt sollen unsere Richtlinien für Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft sein? Was sind unsere Ozon-Grenzwerte im Sommer? Und was tun wir bei Überschreitung der Grenzwerte? Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen.

Wie hängt das mit der Corona-Krise und ihrer Bekämpfung zusammen? Trotz der unterschiedlichen Massnahmen in ihrer Bekämpfung geht es im Kern auch hier um denselben Trade-off zwischen Gesundheit und Ökonomie. Dies wird klarer, wenn wir uns die verschiedenen Reaktionen der Länder auf die Krise genauer anschauen. Grob lassen sich diesbezüglich drei Kategorien an Policies unterscheiden:

  • «Eindämmung»: Durch radikale Massnahmen, wie etwa einem Verbot von Veranstaltungen, der Schliessung öffentlich zugänglicher Einrichtungen und, insbesondere, einer Ausgangssperre, wird versucht, die Verbreitung des Corona-Virus zu stoppen. Die Policy wird in China aber auch beispielsweise in Italien umgesetzt.
  • «Verflachung»: Diese Policy versucht die Infektionskurve der Neuansteckungen zu verflachen und über die Zeit zu verteilen (Stichwort: #flattenthecurve). Die Massnahmen sind ähnlich wie im Falle der «Eindämmung», üblicherweise allerdings weniger strikt und ohne eine Ausgangssperre. Viele Länder Europas, darunter die Schweiz, wenden diese Policy an.
  • «Kontrollierte Immunisierung»: Durch kontrollierte Immunisierung wird versucht, Teile der Bevölkerung mit dem Virus zu infizieren und dadurch zu immunisieren. Dabei werden Risikogruppen besonders geschützt, für die übrigen Teile der Bevölkerung gelten allerdings keine spezifischen Vorgaben. Kein Land hat diese Policy bisher konsequent umgesetzt, Ansätze davon lassen sich aber in Grossbritannien und in Schweden erkennen.

Neben unterschiedlichen Massnahmen unterschieden sich die drei Policies insbesondere bezüglich einer impliziten Entscheidung über den zugrundeliegenden Trade-off zwischen Gesundheit und Ökonomie. Während unter der Policy «Eindämmung» vermutlich mit den gravierendsten ökonomischen Folgen aber den geringsten gesundheitlichen Konsequenzen zu rechnen ist, hat die Policy «Kontrollierte Immunisierung» die geringsten ökonomischen aber – mit hoher Wahrscheinlichkeit – die gravierendsten gesundheitlichen Folgen. Die Policy «Verflachung» liegt dabei in der Mitte der Optionen: Die ökonomischen Folgen werden hoch aber wohl geringer sein als unter kompletter Eindämmung. Gesundheitlich sind die Auswirkungen wahrscheinlich gravierender als unter einer Eindämmung, sie fallen wohl aber geringer aus im Vergleich zu einer kontrollierten Immunisierung.

Die Implikationen dieses Trade-offs für politische Entscheidungsträger sind vielfältig: Einerseits sollte die Wahl einer Policy in Bewusstsein der zugrundeliegenden Abwägung zwischen Gesundheit und Ökonomie vorgenommen werden. Dabei können (und sollten) die Präferenzen der Bevölkerung berücksichtigt werden. So ist es wohl nicht unbedingt Zufall, dass das wirtschaftsliberale Grossbritannien Massnahmen in der Kategorie «Kontrollierte Immunisierung» versucht, während die konsensorientierte Schweiz den Mittelweg gewählt hat. Wichtig ist aber auch, dass die Wahl und Umsetzung einer Policy bereits so früh wie möglich, das heisst bestenfalls noch vor dem Auftreten der ersten Corona-Fälle, erfolgt. Denn die bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass sich der Spielraum an Möglichkeiten mit unkontrollierter Ausbreitung des Corona-Virus (also mit Ausbreitung ohne klarer Policy) reduziert, bis schliesslich nur noch die Eindämmung übrigbleibt – oder der Kollaps des Gesundheitssystems.

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Eine verhaltensökonomische Perspektive auf das Coronavirus: #StayHome als Beitrag zu einem öffentlichen Gut

Leere Bahnhofshalle

Die weltweite Ausbreitung des neuen Coronavirus hat die Regierungen gezwungen, flächendeckende Verhaltensregeln aufzustellen und deren Einhaltung mit teilweise rigorosen Massnahmen durchzusetzen. Die neue Situation erfordert grosse Anstrengungen eines jeden Einzelnen. Der Mensch handelt aber nicht immer völlig rational, das hat die Forschung aus der Verhaltensökonomik stichhaltig und evidenzbasiert gezeigt. In einer Ausnahmesituation wie der jetzigen, in der sich Menschen innerhalb kürzester Zeit in einem neuen Alltag zurechtfinden und angeordnete Verhaltensregeln umsetzen müssen, kommt dies besonders zum Vorschein. Mithilfe verhaltensökonomischer Erkenntnisse lassen sich augenscheinlich irrationale menschliche Entscheidungen erklären und besser verstehen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, effektivere Massnahmen zur Prävention und Verlangsamung der Ausbreitung des Coronavirus abzuleiten.

 

18.3.2020, von Ann-Kathrin Crede

Ein öffentliches Gut beschreibt in der Ökonomie ein Gut, das durch Nicht-Ausschliessbarkeit und Nicht-Rivalität im Konsum charakterisiert ist. Das bedeutet, es kann niemand vom Konsum des Gutes ausgeschlossen werden und das Gut kann von allen gleichzeitig konsumiert werden. Ein typisches Beispiel eines öffentlichen Gutes ist das Signal eines Leuchtturms: Auch diejenigen, die nichts zur Finanzierung des Leuchtturms beitragen, können von dessen Signal profitieren. Zudem tut es der Qualität des Signals keinen Abbruch, wenn es von mehreren Schiffen gleichzeitig genutzt wird.  

Das primäre öffentliche Gut in der Coronakrise heisst: ein funktionierendes Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten. Dies bedingt, dass es gelingt, die Infektionskurve der Neuansteckungen zu verflachen und über die Zeit zu verteilen. Der Aufforderung nachzukommen, möglichst zu Hause zu bleiben und das Haus nur noch aus wichtigen Gründen zu verlassen, kann dies massgeblich unterstützen, und gleicht daher dem Beitrag zu diesem öffentlichen Gut.

In der klassischen ökonomischen Theorie hat ein rationaler Mensch keinen individuellen Anreiz, einen Beitrag zu einem öffentlichen Gut zu leisten, da er als Trittbrettfahrer von den Beiträgen anderer profitieren kann. Das Wohlfahrtsoptimum hingegen wäre, dass alle den vollen Beitrag leisten. Daraus entsteht ein soziales Dilemma und – in vielen Fällen – eine zu geringe Bereitstellung öffentlicher Güter. Um dieses Dilemma zu lösen, werden öffentliche Güter in der Regel vom Staat zur Verfügung gestellt.

Übertragen auf die derzeitige Situation bedeutet dies, dass aus klassisch-theoretischer Sicht jeder Einzelne einen Anreiz hat, das Haus zu verlassen, und sich darauf zu verlassen, dass andere zu Hause bleiben. Im Gleichgewicht würden alle das Haus verlassen, was vor dem Hintergrund der Notwendigkeit von Social Distancing erhebliche Konsequenzen für das Gesundheitssystem mit sich bringen würde. Der Staat könnte das öffentliche Gut nur mit strengsten Regeln und Auflagen bereitstellen.

Obwohl die bisherigen Verhaltensempfehlungen nur teilweise bindend sind, halten sich aber die meisten Menschen daran. Weshalb? Die experimentelle Forschung hat gezeigt, dass sich Menschen in einer Öffentliches-Gut-Situation anders verhalten als dies die Theorie voraussagt: So zeigen Experimente, dass sich etwa 50% der Menschen als sogenannte conditional cooperators verhalten, d.h. sie tragen umso mehr zu einem öffentlichen Gut bei, je mehr dies andere tun (Fischbacher et al. 2001). Dieses Verhalten kann mit sozialen Präferenzen wie Altruismus und Reziprozität erklärt werden. „Nur“ 30% der Menschen sind Trittbrettfahrer und leisten keinen Beitrag zum öffentlichen Gut. Zusätzlich wurde untersucht, wie Trittbrettfahrer-Verhalten begegnet werden kann. In diesem Zusammenhang konnte gezeigt werden, dass Menschen, die einen Beitrag zu einem öffentlichen Gut leisten, bereit sind, Trittbrettfahrer auf eigene Kosten zu bestrafen, um diese zu einem Beitrag zu bewegen. In Öffentliches-Gut-Experimenten mit der Möglichkeit, Trittbrettfahrer zu bestrafen, können somit höhere Beiträge zum öffentlichen Gut erreicht werden (Fehr, Gächter 2000).

Was können wir daraus für die Coronakrise ableiten? Menschen sind gewillt, einen Beitrag zu einem öffentlichen Gut zu leisten, wenn andere dies auch tun. In der jetzigen Situation ist es also wichtig aufzuzeigen, dass sich viele Menschen an die Aufforderung halten, zu Hause zu bleiben. Die Bilder von leeren Strassen, Bahnhöfen und Einkaufspassagen, die zur Zeit ein integraler Bestandteil der Berichterstattung in den Medien sind, haben folglich eine wichtige Funktion. Auch die sozialen Medien tragen durch Hashtags wie #StayHome zu Transparenz bei, die es ermöglicht, Hinweise über das Verhalten anderer zu erhalten. So bekennen sich derzeit viele Arbeitnehmende durch Beiträge in den sozialen Medien zu ihrer Homeoffice Situation und können damit einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Öffentliches-Gut-Problematik durch zu Hause bleiben zu entschärfen. Die Möglichkeit, Trittbrettfahrer zu bestrafen und sie dadurch zu ihrem Beitrag zu bewegen, könnte darin bestehen, Fehlverhalten aufzuzeigen, zu kritisieren oder sozial zu ächten, wobei die Berücksichtigung der individuellen Umstände der angeklagten Person natürlich dringend geboten ist.

 

Quellen:

Fischbacher, U., Gächter, S., & Fehr, E. (2001). Are people conditionally cooperative? Evidence from a public goods experiment. Economics Letters, 71(3), 397-404.

Fehr, E., & Gächter, S. (2000). Cooperation and punishment in public goods experiments. American Economic Review, 90(4), 980-994.

 

Haben Sie Feedback oder Fragen an die Autorin? Bitte melden Sie sich direkt per Mail: ann-kathrin.crede@swiss-economics.ch

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